Richard Didicher: 11.01.2022

Niemandsland (Teil 1)

Die Werra, dieser müde durch Salzlaken geschädigte Fluss, der im thüringischen Schiefergebirge entspringt, fließt die deutsch–deutsche Grenze entlang und hat viel gesehen: die willkürliche Teilung einer Nation, das Leid der Menschen auf beiden Seiten der Grenze, die hysterische Abschottung der DDR durch Beton und Stahl, Minenfelder, Hundetrassen und Selbstschussanlagen. Auch die Gewehrsalven der Grenzsoldaten und die Todesschreie unschuldiger Menschen blieben ihr nicht verborgen. Fast befreit trägt sie die Last ihrer Erinnerungen in die Weser, um sie danach in der weiten Nordsee zu versenken.

Die Erinnerungen der Menschen an ihre Untaten und Grausamkeiten, an ihren Verbrechen gegen die Menschlichkeit, befohlen von einem korrupten und verlogenen System, 1000 Opfer des DDR Grenzregimes, diese lassen sich nicht wegspülen.

Der junge Grenzoffizier Josef Wild ließ sich auf einem parallel zur Grenze angelegten Fahrweg mit Betonplatten stehend von seinem Fahrer die Grenze entlang kutschieren. Die Pose war beeindruckend. Die eine Hand an der Hosennaht, die andere als Stütze auf dem Rahmen der Windschutzscheibe. Seine steingraue Uniform mit grüner Paspelierung und grünem Mützenrand war neu. Er hatte die Offiziersschule in Plauen, der Kaderschmiede der DDR-Grenzoffiziere, als Jahrgangsbester abgeschlossen. Eigentlich wollte er Germanistik studieren, denn die Literatur hatte es ihm angetan. Als Jugendlicher verschlang er alle Bücher, die ihm in die Hände kamen, vorrangig klassische Literatur. Als ihn sein Vater einmal, anlässlich einer überregionalen LPG-Sitzung mit nach Weimar nahm, stand er vor dem Standbild von Goethe und Schiller und weinte. „Diese beiden haben uns in der Welt nicht blamiert, wie es durch die Nazis geschah. Unsere Dichter, Maler und Komponisten sind alles, was uns Deutschen geblieben ist“, sagte er später zu seinem Vater.

Und jetzt war er als Leutnant Teil des Grenzkommandos Süd, GKS, Stab Erfurt, weil die Partei es so wollte und sein Vater nicht den Mut hatte, den Genossen zu widersprechen.

Ursprünglich war sein Vater Friedrich Wild ein streitbarer Sozialdemokrat, aber nach der Zwangsvereinigung von KPD und SPD gab er klein bei. Um sicher zu gehen, schickten ihn die Genossen für zwei Jahre nach Moskau auf die Hochschule für Ackerbau und Viehzucht. Er kam scheinbar geläutert zurück und vertrat in der Öffentlichkeit die Grundsätze der Partei. Er wurde 1955 in einem Ort in der Nähe von Langensalza zum LPG-Vorsitzenden ernannt. Nach außen war er stets linientreu und bemüht in der LPG die Erträge zu steigern, denn nur so konnte die DDR den Verlockungen des Westens standhalten. „Satte Menschen sind friedlich“ war seine Devise.

Seine Mutter war eine schüchterne Flüchtlingsfrau aus dem Sudetenland, die auf der Flucht vor den Russen ihre Familie verlor und die versuchte sich allein nach Frankfurt durchzuschlagen. Eigentlich war sie nicht allein, denn einer der Jagdhunde ihres Vaters, ein roter Setter, wich nicht von ihrer Seite. Und wenn es mal brenzlig wurde und es galt sie zu beschützen, fletschte er die Zähne und wurde zum Raubtier.

Sie saß drei Tage am zerstörten Bahnhof von Unterberg mit ihrem abgemagerten Hund und wartete, dass ein Zug kam, doch der Bahnverkehr war längst eingestellt und so kam auch kein Zug, dafür aber Josephs Vater, der zuerst auf den Hund aufmerksam wurde und sein Herz höher schlagen ließ. Er fragte nach dem Namen des Hundes und wollte auf ihn zugehen und ihn streicheln, doch die Frau wehrte ab: „Ich bin die Susanne, er heißt Bodo und greift jeden fremden Mann, der mir zu nahe kommt, an“, sagte sie.

Wollen wir mal sehen“ sagte Josephs Vater und er strich dem Hund vorsichtig über den Kopf. Dieser blickte mit seinen sanften Augen zu ihm hoch und beschnupperte ihn.

Wahrscheinlich riecht er unsere Hündin Bianca. Als ich von der Front verwundet zurückkam, fand ich in unserem zerbombten Haus nur noch den Setter. Meine Eltern hatten den Krieg nicht überlebt.

Wenn Sie Hunger haben, Susanne und sich aufwärmen möchten, können Sie mich begleiten, ich habe zwei Zimmer notdürftig repariert und außerdem habe ich heute mit der Flinte meines Vaters, die ich in den Trümmern fand, einen Hasen geschossen.“ Die Frau nickte, nahm Bodo an die Leine und folgte wortlos.

Ein Jahr danach kam Joseph zur Welt.

Und dieser fuhr jetzt auf einem holprigen Grenzweg, sah von Zeit zu Zeit auf die westdeutsche Seite und dachte an die kleine Marie aus Oberberg: „Wenn sie ihn so sehen würde“, doch er verwarf den Gedanken sehr schnell, denn sie lebte jetzt im Westen und gehörte zu den imperialistischen Klassenfeinden.

Früher verband die beiden Dörfer Unterberg und Oberberg eine einfache Straße und die Kinder beider Orte spielten miteinander. Die Bewohner beider Dörfer kannten sich und nicht selten wurden auch Ehen zwischen jungen Menschen beider Orte geschlossen.

Auf der Potsdamer Konferenz wurde durch die Siegermächte Deutschland willkürlich aufgeteilt und plötzlich gehörte Unterberg zur russischen Besatzungszone und Oberberg zur amerikanischen.

Die ersten Jahre nach der Teilung änderten kaum etwas am Leben der Menschen. Armut, Hunger und Trauer um die im Krieg Gefallenen gab es überall in Deutschland.

Jeder versuchte sich selbst zu helfen, so auch Friedrichs Vater. Morgens in aller Herrgottsfrüh nahm Friedrich Wild Bianca und Bodo an die Leine, die zerlegte Flinte war im Rucksack verstaut, sein Nachbar, der hagere Müller stand schon vor dem Hoftor und beide schlichen sich in die Felder. Die Hunde suchten die Wiesen ab und jedes Mal, wenn sie Wild witterten, standen sie wie angewurzelt, so dass sich Friedrich anschleichen konnte. Ein Knall und schon gab es einen Hasen, einen Fasan oder Rebhühner für den Rucksack. Natürlich bekamen auch die Hunde, die nicht sehr wählerisch waren, etwas von der Beute ab.

Nachmittags suchten die beiden Männer nach Obst in den Obstwiesen, die nicht mehr bestellt und so von Brennesel überwuchert waren. Jetzt waren auch die Kinder dabei. Marie, die Nachbarstochter, und Joseph.

Wenn die beiden keine Lust mehr hatten Beeren zu pflücken, spielten sie mit Bodo, dem Flüchtlingshund und Bianca, der Trümmerhündin, wie Josephs Mutter die beiden manchmal nannte, auf der Wiese. Maries Vater sagte dann zu Josef: „Du musst mir versprechen, auf sie aufzupassen, dass sie nicht in den Bach fällt. Sie ist so stürmisch wie ein junger Setter.“ Josef erwiderte dann: „Mach ich, ich verspreche es, ich werde immer auf sie aufpassen.“ Marie wurde bei diesen Worten ganz rot und als sie allein waren, schenkte sie ihm ein weißes Taschentuch mit angeblich seinem eingestickten Namen, der nur aus einigen unbeholfenen Stichen bestand.

Ein bescheidenes Leben in einer zerstörten Welt bahnte sich an und die angebliche Grenze interessierte keinen. Bis zu dem Tag Anfang 1952, der alles veränderte.
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17.02.2022: Fortsetzung - Teil 2

Holzfäller aus den thüringischen Wäldern wurden angekarrt, aber auch andere Menschen aus den Dörfern der Werra entlang. Sie wurden von Volkspolizisten begleitet und hatten die Aufgabe, das Gelände an der Grenze frei zu machen, zu glätten und einen Grenzstreifen zu ziehen.

SED-Funktionäre, die nach Unterberg kamen, erkundigten sich nach Menschen, die unzuverlässig und nicht linientreu seien. Man munkelte, dass diese in den nächsten Tagen ins Landesinnere umgesiedelt werden würden. Diese Aktion hatte den menschenverachtenden Namen „Ungeziefer“. Zwei Funktionäre erkundigten sich ausführlich bei Friedrich Wild, den sie für einen der ihrigen hielten, über seinen Nachbarn Hans Müller. Während des Gesprächs stellte sich heraus, dass sie gut informiert waren und dass sie auch über die morgendlichen „Jagdzügen“ der beiden Bescheid wussten.

Wir nehmen es ihnen ja nicht übel, dass sie ihre Familie versorgen, aber sie müssen mit uns zusammenarbeiten, da sie als Sozi seit 1946 jetzt auch zur SED gehören.“ Dies bejahte Friedrich natürlich, gelobte Zusammenarbeit und wartete nur, bis beide weggefahren waren, um über den Gartenzaun seinen Nachbar zu warnen.

Am nächsten Morgen, als Joseph Marie zum Spielen abholen wollte, war das Haus leer.

Später erfuhr man, dass Hans Müller in der Nacht seine Schwiegereltern und die beiden Schwager in Oberberg besucht habe. Es fanden sich acht mutige Männer, die ihm halfen sein gesamtes Hab und Gut über die provisorische Grenze zu bringen.

Die Partei schien aber von Friedrichs Antwort auf die Frage, ob er von dem nächtlichen Auszug der Nachbarn nichts mitbekommen habe, nicht überzeugt. Dieser versicherte, er habe versucht seine Zahnschmerzen mit Schnaps zu ertränken und fest geschlafen.

Einige Tage danach erhielt er die Mitteilung, dass ihm von höchster Stelle für zwei Jahre ein Stipendium zum Studium nach Moskau, das er nicht ablehnen könne, zugesprochen wurde.

Seine Frau war verzweifelt, doch Friedrich Wild meinte nur: „Ablehnen ist zwecklos, vielleicht warten sie gerade darauf, dass wir einen Fehler machen. Du und Joseph werdet gut versorgt sein.“

Der kleine Joseph schlich an den folgenden Tagen immer wieder ums Nachbarhaus, es konnte doch nicht wahr sein, dass seine Freundin ihn verlassen hat. Sie waren doch gestern noch zusammen Maikäfer für die Hühner sammeln.

Die Straße an der Grenze wurde immer holpriger und die Fahrt immer schwieriger. Leutnant Joseph wachte aus seinen Träumen auf und plötzlich kam er sich lächerlich in dieser Pose vor, erinnerte sie ihn doch eher an die Bonzen des dritten Reiches, denen das Volk zujubelte. Ihm jubelte niemand zu und als sie eine Anhöhe hoch fuhren, waren sie gut auf dem anderen Teil der Grenze sichtbar und prompt von einer Gruppe junger Klassenfeinde aus ihrem Ford Capri mit einem Hupkonzert begrüßt.

Er nahm wieder auf dem Beifahrersitz Platz, wandte sich zum Rücksitz und streichelte lange in Gedanken versunken seinen jungen irischen Setter Lucas.

Als er seine Tour beendet hatte, stieg er auf den Kontrollturm. Vorher musste er sich von einem Untergebenen die alten Witzeleien anhören: „Ach, das Schoßhündchen lebt ja noch, hatte wohl Glück, dass er den Trassenhunden nicht zu nahe kam, denn diese kennen keinen Pardon, weder mit Mensch noch Tier, das sind echte DDR-Schäferhunde.“ Da ihm die Sprüche auf die Nerven gingen, sagte er nur: „Morgen zwei Schichten für dich“ und nahm auf der oberen Etage eines Kontrollturms Platz. Mit seinem Zeiss-Fernrohr hielt er Ausschau nach den Republikflüchtigen. Oder suchte er vielleicht die Wiesen im Feindesland nach einer jungen Frau mit einem roten Hund ab, die jeden Abend einen Setter spazieren führte?

Wenn er sie sah, zoomte er sie heran, so nahe, dass er ihr Gesicht und ihre Augen sehen konnte und er hatte keine Zweifel: die gleichen Augen, dieselben Grübchen in den Wangen. Es musste Marie sein. Und wenn der Setter dann mal wieder einen Hasen hochmachte und ihm das Geleit gab, dachte er an die boshaften Worte seines Vaters: “Setter bevorzugen Frauen, weil sie diese besser austricksen können.“

Mit hereinbrechender Nacht, übergab er das Kommando an seinen Untergebenen, ging in die Kaserne, legte sich auf das Bett und dachte jeden Abend das Gleiche: „Gott bewahre uns vor einem Grenzgänger, ich will keinen Menschen töten.“ Seine Mutter, die eine gläubige Frau war, sagte immer:

„Bete, wenn du in Nöten bist, aber leise, denn nur die Gedanken sind frei.“ Und er wusste auch an diesem Abend nicht, wie er sich bei einem wirklichen Zwischenfall verhalten würde. Gut, dass er ein Zimmer für sich hatte, denn das Misstrauen der einzelnen Offiziere untereinander war groß, jeder konnte zur Stasi gehören.

Lucas nahm neben ihm Platz, drückte sich fest an ihn und so schliefen sie ein.

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01.03.2022: Fortsetzung - Teil 3

Eigentlich dürfte es Lukas gar nicht geben, denn in der DDR gab es für alles Reglementierungen und selbstverständlich auch für die Hundezucht. In jedem Wurf durften nur acht Welpen am Leben bleiben. Die anderen wurden „gemerzt“.

„Welch hässlicher Ausdruck“ schimpfte Josephs Vater, natürlich nur, wenn sie allein waren. „Merzen statt Töten, wir Deutschen sind Meister im Beschönigen und Verfälschen der Worte. Und dabei widerspricht diese Aussortierung allen Gesetzen der Genetik“ Denn von dieser Wissenschaft, die allmählich auch in der Tierzucht Einzug hielt, hatte er bei Fortbildungen über die Auswahl der Zuchttiere in der Viehzucht einiges mitbekommen. „Wie kann ich sehen, welcher Hund über die besten Erbmerkmale verfügt, wenn ich manchmal ein Drittel nach der Geburt töten muss? Das sind faschistische Methoden“, schimpfte er abends, wenn das Hoftor verschlossen war und er und seine Frau sich ins Schlafzimmer zurückgezogen hatten, wo auch die Körbe für die Hunde und der Fernseher stand.

Was ihn genauso nervte war der „Antrag auf Deckrüdenzuweisung“, den er ausfüllen sollte. „Bald wird auch für die Menschen gelten: eine Genossin und ein Genosse und vorher ein Antrag an die Partei!“ schimpfte er. Obwohl seine Frau ihn warnte, ließ er es sich nicht nehmen, jeden Abend das Westfernsehen einzuschalten und wenn Brandt eine Rede hielt, hörte er andächtig zu. Das Schlafzimmer hatte keinen Telefonanschluss und konnte so nicht verwanzt werden. Als LPG-Vorsitzender waren ihm die Stasimethoden nicht fremd. Das ist unser sicherer abhörgeschützter Bunker lästerte er manchmal, wenn er mit seiner Frau allein war. Und Joseph flüsterte er öfter zu: „ Wir wären Narren, wenn wir uns ihnen widersetzten, denn sie haben die Macht. Mit den Wölfen heulen heißt nicht ein Wolf zu sein. Früher, als die Kirchenglocken läuteten, haben unsere Setter auch geheult, aber sie waren beileibe keine Wölfe. Joseph, du musst ihnen immer sagen, was sie hören wollen, Aufrichtigkeit und Zusammenhalt gibt es nur in der Familie.“ Randbemerkung des Autors: Ob Vater und Sohn, die ja beide zu Aufsteigern und Profiteuren dieses Systems wurden, obigem Grundsatz treu blieben, ist fraglich. Während eines Besuchs bei seinen Eltern, stellte Leutnant Joseph sofort fest, dass sein Vater an diesem Tag etwas fahrig und leicht nervös war. Er bat zum ersten Mal seinen Sohn, die Uniform abzulegen, er sagte nur :

“So ist es mir lieber, so sehe ich meinen Sohn und nicht die geballte Staatsgewalt“, danach bat er ihn ins Schlafzimmer und führte ihn an die Wurfkiste: „Neun gleiche und gesunde Welpen und einer muss getötet werden, das geht nicht in meinen Kopf!“ Joseph streichelte die Welpen, jeden einzelnen, wie er es als Kind schon immer getan hatte, dann richtete er sich auf und sagte: „Vor der Wurfabnahme komme ich wieder und dann nehme ich den Welpen mit dem weißen Brustfleck mit. Er wird Lukas heißen. Dann sind es nur noch acht. Leutnant Joseph Wild ist nicht verpflichtet, Auskunft über die Herkunft seines Jagdhundes zu geben.“

Es trifft sich gut, da sie mir sowieso den Jagdschein als kleine Anerkennung zugeschickt haben. Erleichtert umarmte der Vater seinen Sohn. Und so nahm das Schicksal seinen Lauf. Lucas wuchs zu einem prächtigen Setter heran. Er war hochnäsig und schön. Wenn die „Trassenhunde“, die es der Grenze entlang an manchen Stellen noch gab, ihn wütend ankläfften, drehte er überheblich den Kopf in die andere Richtung. Joseph tadelte ihn dann: „Die armen Kerle würden gern mit dir tauschen, sei nicht so arrogant.“

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01.03.2022: Fortsetzung - Teil 4

Abends, wenn sie allein im Wachturm saßen, scherzte Joseph: „Wenn du ein Mensch wärst, würde ich dir mein Zeiss-Fernglas ausleihen. Die unerzogene Setterhündin im Feindesland, die eine Frau an der Leine hinter sich herzieht, ist eine wahre Pracht. Lucas hob dann die Nase und begann zu schnuppern und Joseph war sicher, dass sein roter Freund alles verstand.

Am 1. Mai, am sogenannten Internationalen Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus, fuhr Leutnant Joseph mit Lucas in die Stadt.

Er trug wie die meisten Grenzer bei ihren seltenen Ausgängen keine Uniform. Die Beliebtheit der „Elitetruppe“ hielt sich bei den Genossen in Grenzen. Bei einem Tanzfest - Lucas lag brav ohne Leine unter einem Biertisch - lernte er die FDJ-Sekretärin der Gegend kennen.

Diese war wenig zimperlich und lud ihn sofort zu sich in die Wohnung ein. Im Treppenhaus zeigte sie Joseph eine Stelle, wo er Lucas anleinen könne. Damit endete die Liebelei, bevor sie begonnen hatte.

Bei einer hübschen Genossin auf einem LPG-Fest waren es die Katzen, die Lucas durch das Haus scheuchte. Die Krönung seiner Störmanöver leistete sich Lucas, als er bei einem gemütlichen Spaziergang am Bach Josephs Auserwählte schockte, indem er einer Ente hinterher schwamm und das nasse Federvieh der jungen sensiblen Kunststudentin vor die Füße legte. Du machst mich zum alten Junggesellen mit deiner flegelhaften Art“, schimpfte Joseph, um dann am Abend sein Fernglas zur Hand zu nehmen und die „kapitalistischen“ Wiesen abzusuchen.

Ohne große Aufregung verging ein Tag wie der andere. Acht Stunden Dienst, acht Stunden Bereitschaft, acht Stunden Schlaf. Besondere Vorkommnisse gab es kaum: ein eingeschlafener Grenzposten, der in den Bau musste, Missachtung des Rauchverbots beim Dienst, Streit schlichten zwischen den Soldaten und wieder war für die Betroffenen Bau fällig.

Doch dann kam der Tag, den Joseph nie vergessen würde. Seine Gruppe hatte an diesem Abend Bereitschaft. Er hatte den Kontrollgang abgeschlossen und war gerade dabei „keine besonderen Vorkommnisse“ in seinen Bericht zu schreiben, als das Sirenengeheul ihn aufschreckte. Leuchtraketen tauchten den Grenzstreifen in ein grelles Licht, dann folgte eine Gewehrsalve. Joseph stürzte zur Tür hinaus und trommelte seine Mannschaft zusammen.

Das Bild, das sich Joseph bot, war grauenvoll. Eine junge Frau lag blutüberströmt auf dem Grenzstreifen. Sie schrie vor Schmerzen. Neben ihr kniete ein Grenzsoldat und stammelte immer wieder: „Bitte vergeben sie mir, ich wollte doch nur einen Warnschuss abgeben.“

Joseph versuchte die Frau aufzurichten, doch sie sank immer wieder in sich zusammen, dabei flüsterte sie mit schwacher Stimme: „Ich wollte doch nur zu meinem Mann. Wir haben in Ungarn am Plattensee geheiratet. Ich trage sein Kind in mir.“

Joseph sah verzweifelt in die Runde: „Wo sind die Sanitäter? Schafft sie endlich herbei“, schrie er mit heiserer Stimme. Als diese kamen war es zu spät. Die Frau starb in Josephs Armen.

Am nächsten Morgen erfuhr man, dass sich der Schütze in der Nacht erschossen habe. Es war ein junger schmächtiger Mann, der so gerne Musik studieren wollte. Er hatte sich freiwillig zur Grenze gemeldet, um anschließend zum Studium zugelassen zu werden.

Am nächsten Tag kam General Oberst Erich Franz aus Berlin. Leutnant Joseph Wild erhielt vorher einen Anruf, er solle alle dienstfreien Grenzsoldaten für Punkt 12 Uhr zum Appell antreten lassen.

Leutnant Joseph Wild erstattete Bericht: Vorkommnisse der letzten Nacht: Zwei Todesopfer, ein Grenzsoldat und eine Privatperson. Der Generaloberst winkte ab, zog ein Papier aus der Tasche und las: „Fähnrich Ulf Fink hat durch seinen Heldenmut einen Grenzdurchbruch von Ost nach West verhindert. Die DDR-flüchtige Person wurde von ihm gestellt. Sein heldenhafter Dienst für die deutsche demokratische Republik macht uns stolz. Er ist in Erfüllung seiner patriotischen Pflicht gestorben. Am 1. Dezember, dem „Tag der Grenztruppen“, werden wir seiner gedenken“.

Scherzhaft fügte er hinzu: „Auf Salutschüsse werden wir hier verzichten, sonst glaubt der imperialistische Westen, dass wir ihn angreifen.“

Er warf einen Blick auf Lucas, der sich für die Vorträge nicht zu interessieren schien und gemütlich in die Sonne blinzelte. Der Hund missfiel ihm und so grunzte er beim Warten auf seinen Fahrer, der dabei war, die Hintertür des schwarzen Moskwitsch zu öffnen: „Du taugst nicht als Trassenhund, weil dir der Biss fehlt und als Jagdhund verwechselt man dich mit einem Reh.“

Und die tote, namenlose, vergessene Frau?

Auf der anderen Seite der Grenze wartete ein Mann tagelang vergebens.

Der Oberst war bereits eingestiegen, doch das Fahrzeug fuhr nicht los. Alle standen in Reih und Glied aufgereiht mit der Hand an der Mütze um den Gast zu verabschieden.

Dieser unterhielt sich mit seinem wild gestikulierenden Adjutanten, von dem alle wussten, dass er zur Staatssicherheit gehörte, im Inneren des Wagens. Plötzlich stieg der Oberst wieder auf aus, wandte sich mit folgenden Worten an Leutnant Wild: „Genosse Wild, ich suspendiere Sie mit sofortiger Wirkung vom Dienst. Sie haben Sympathie zu einer Republikflüchtigen gezeigt und erste Hilfe geleistet, das ist untersagt. DDR-Flüchtlinge sind Verbrecher. Ihr Stellvertreter übernimmt ab sofort all ihre Pflichten.“

Joseph wagte zu erwidern: „Es war eine schwer verletzte schwangere Frau.“

Also zwei Flüchtige“ sagte der Oberst. Er stieg ein und das Auto setzte sich in Bewegung.

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20.03.2022: Fortsetzung - Teil 5

Joseph übergab alle Protokolle seinem Untergebenen, tauschte die Uniform gegen einen schlichten Anzug, nahm Lucas an die Leine und ging zum Bahnhof. Einige der Soldaten riefen ihm hinterher: „Wild, du bist ein Verräter“. Die Fahrt mit dem Zug zu seinen Eltern war durch das zweimalige Umsteigen recht mühsam. Mit dem Dienstwagen brauchte er vorher nur eine knappe Stunde. Er traf am späten Nachmittag zu Hause ein. Als er das Tor öffnete, traute er seinen Augen nicht. In der Einfahrt stand ein schwarzes Fahrzeug mit Diplomatennummer. Auf der Veranda saß sein Vater und trank Wodka mit einem schwarz gekleideten Mann. Dieser rief ihm zu: „Syn moyego druga, Sohn von Freund, was für ein roter sobaka hast du, ist sicher russisch. Lass hier be tvoy Vater. Er macht Schmutz in mashinui. My idem v kazarmy, fahren zurück. Joseph konnte nicht antworten. Er sah seinen Vater an, dieser nickte. Er umarmte seine Mutter und sie fuhren los. Die ganze Strecke sprach der unheimliche Mann kein einziges Wort.

Als sie in der Kaserne ankamen, war es fast dunkel und dennoch standen alle in Reih und Glied. Selbst der Oberst, der wieder angereist war, riss die Hacken zusammen und salutierte. Der Diplomat würdigte ihn keines Blickes. Zu Joseph sagte er: „Zieh uniformu an, naden'te uniformu leytenant“.

Er küsste Joseph nach russischem Brauch auf die Wange, drehte sich zu Oberst Franz und brüllte ihn an: „Mach keine Fehler Genosse Oberst, ich lasse für dich Gulag in Sibirien wieder aufbauen. Die Sowjetunion ist groß und wir sagen dir, was gut oder schlecht ist.“ Er zwinkerte Joseph zu, stieg in den Wagen und der Fahrer fuhr los.

Oberst Franz winkte seinen Fahrer herbei, murmelte mit finsterer Miene zu Joseph: „Nichts für ungut Leutnant Wild, nehmen Sie sich in Acht“ und weg war er.

Natürlich löste der Diplomatenbesuch bei Friedrich Wild im Dorf heftige Spekulationen aus: Wild ein KGB Spion, Wild als zukünftiger Außenminister der DDR? Andere glaubten zu wissen, dass der alte Wild als junger Mann bei seinem Studium in Moskau durch einen waghalsigen Sprung in die Moskwa dem Kind eines hohen Regierungsbeamten das Leben gerettet habe. Letztere Variante könnte der Wahrheit näher kommen.

Für Leutnant Joseph Wild war diese Demütigung durch seinen Vorgesetzten eine Wende in seinem Leben. Das Heitere und Leichte, das trotz dieses grotesken Dienstes in ihm schlummerte, war über Nacht verschwunden. Besonders die Schadenfreude seiner Untergebenen bei seiner Suspendierung nagte in ihm.

Zu seinem Setter Lucas blieb er weiterhin freundlich. Wenn sie abends allein im Zimmer waren, sprach er mit ihm. Oft war es belangloses Zeug oder es waren Kindheitserinnerungen an die Zeit mit Marie in Unterdorf. Lucas hörte aufmerksam zu und man konnte glauben, dass er alles verstand, denn bei Geschichten, die auch ihn betrafen, begann er plötzlich mit der Rute zu wedeln. Oft erzählte er Lucas auch wie schön es wäre, mit der jungen Frau mit dem Setter durch die grünen Wiesen einer freien Welt zu laufen. Wenn er dann den Finger auf den Mund legte und zu Lucas sagte: „Unser Geheimnis“, fiepte dieser, so als hätte er alles verstanden.

Im Alltag war Joseph wie ausgewechselt. Er hatte endlich das begriffen, was viele Menschen aus den Ostblockstaaten ausmachte: eine strikte Trennung zwischen Innen- und Außenleben.

Nach außen verkörperte Leutnant Wild den DDR-Offizier, der Wert auf strikten Dienst nach Vorschrift legte.

Unpünktlichkeit bei Dienstantritt bedeutete für die Soldaten Streichung des Ausgangs für einen Monat; Trunkenheit bedeutete drei Tage Arrest. Einschlafen während des Grenzdienstes bedeutete Verlust des Urlaubs.

Er führte die gefürchteten Politabende mit Frage-Antwort-„Spiel“ wieder ein.

Wenn Fragen wie „Warum müssen wir die DDR-Grenze beschützen?“ lapidar mit „um Flüchtlinge zu erschießen“ von einem Soldaten beantwortet wurde, betraf die Reglementierung nicht nur den Betreffenden, sondern auch seinen Zugführer. Beide mussten hundert Mal den Satz „Verletzung der Grenze von Ost nach West durch Saboteure und Reaktionäre aus dem Westen müssen verhindert werden. DDR-Flüchtige sind zu stellen“ schreiben.

Natürlich führte diese Maßnahme dazu, dass das Verhältnis zwischen Fähnrichen und den Untergebenen nicht das Beste war. Hass, Misstrauen und Verpetzen waren an der Tagesordnung.

Besonders schlecht kamen bei ihm die Söhne des Staatsicherheitsapparats weg. Oft prahlten diese verwöhnten Jasager mit der Tätigkeit der Eltern. Für sie war der Grenzdienst nur ein Sprungbrett für einen Studienplatz und deshalb waren sie bemüht sich anzubiedern und zu gefallen.

Leutnant Wild scherte sich wenig darum, Hauptsache war, dass die Stasispitzel in der Kaserne sein Durchgreifen zum Wohle des Arbeiter- und Bauernstaates an ihre Vorgesetzten weitergaben, was natürlich regelmäßig erfolgte. Eine Beförderung ließ bei einem derartigen Pflichtbewusstsein nicht lange auf sich warten.

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0.03.2022: Fortsetzung - Teil 6

Oberleutnant Wild wurde jetzt mit anderen Aufgaben betraut. Er übte ab sofort auch Kontrollfunktionen über andere Grenzsektionen aus. Die Auseinandersetzungen mit dem „Fußvolk“ blieben ihm erspart.

Ihm stand ab sofort ein geräumiges möbliertes Zimmer zur Verfügung.

Bei seinen „Dienstfahrten“ verzichtete er manchmal auf seinen Fahrer, so dass er zwischendurch an einem stillen Ort anhalten und mit Lucas einen Spaziergang machen konnte.

Private Gespräche mit Soldaten lehnte er ab. Er hasste geradezu Menschen, die versuchten durch Schmeicheleien sein Wohlwollen zu erkaufen.

Er erinnert sich immer wieder an die Worte, die sein Vater ihm bei Dienstantritt mitgab:“ Suche dir deine Freunde selbst aus und sei vorsichtig und wählerisch. Halte Menschen auf Abstand, die dich angeblich bewundern, sie erhoffen sich nur Vorteile, du bist ihnen egal, sie werden dich eiskalt verkaufen. In dieser Welt gibt es viele Denunzianten, benutze sie, aber halte sie immer auf Abstand.“

Joseph war oft einsam, doch nie allein, denn er hatte Lucas, der stets an seiner Seite war.

Und da waren ja auch noch die Besuche bei seinen Eltern. Joseph genoss diese Tage. Am liebsten saß er mit seiner Mutter auf der Veranda und lauschte ihren Geschichten über den Bauernhof ihrer Eltern im Sudetenland. Herrliche Wälder, Flussauen in einem satten Grün mit weidenden Kühen, ein Garten voller Geflügel; eine beschauliche Welt, bis die Russen kamen und über das Gartentor hinweg zwei der drei Jagdhunde des Vaters erschossen. In der gleichen Nacht packte die Familie ihren Leiterwagen und sie fuhren los.

Wenn der pompöse russische Freund des Vaters auftauchte, blieb sie höflich, doch sie mochte ihn nicht.

Oft pflegte sie zu sagen: „Die Welt kann man nicht durch Arbeitslager besser machen, sondern nur durch Bildung.“ Was würde ein Dostojewski, Tolstoi, Gogol, Bulgakow oder ein Puschkin denken, wenn sie diese „armselige Diktatur des Proletariats“ und die „geschundene russische Seele“ erleben müssten?“

Joseph war verblüfft über derartige Aussagen der Mutter und er fragte sie, woher sie all diese Autoren kenne und sie bemerkte nur, dass diese Schriftsteller genau wie Goethe und Schiller auch ihren Platz in der Weltliteratur hätten.

Die heutige Jugend kennt solche Bücher nicht, dafür müssen junge Menschen einen Strittmatter lesen oder sie werden mit Theorien über den „Sozialistischen Realismus“- eine groteske Erfindung der Kulturfunktionäre-„ gefüttert“, fügte sie hinzu.

Auch Lucas schienen solche Gespräche zu interessieren. Oder lauschte er nur so andächtig den Worten der Mutter, weil sie fast zufällig einen Belohnungshappen fallen ließ?

Allein der Vater wurde bei solchen Gesprächen unruhig und von Zeit zu Zeit schlug er vor, das Thema weiter im abhörsicheren „Schlafzimmerbunker“ weiterzuführen.

Irgendwie schien der Vater mit seinen Gedanken weit weg zu sein.

Als ihn Joseph endlich fragte, was los sei, platzte es aus ihm heraus: „In einer Woche soll hier eine Treibjagd zu Ehren unseres großen Genossen Honecker stattfinden. Die Maisernte ist noch in vollem Gange und die Zuckerrübenernte ist auch noch nicht abgeschlossen. Gestern erhielt ich die Anweisung, den Mais samt Kolben einzuackern, damit alles „blitz-blank“ sei. Es ist ein Verbrechen. Da müht man sich ein ganzes Jahr mit dem Getreide ab, um vor der Ernte mehr als zehn Tonnen Mais zu verscharren, damit die Optik stimmt. Übrigens ist der Genosse Oberleutnant Joseph Wild auch als Schütze eingeladen, welch eine Ehre. Ich soll den Treiber machen. Gut, dass der Dorfarzt mir bereits eine Verstauchung des linken Köchels bescheinigt hat“, fügte er spöttisch hinzu.

Bevor sich Joseph verabschiedete, nahm er seine Mutter, die er bedingungslos liebte, in den Arm und flüsterte ihr zu:

Ich verspreche dir, Mutter, in meinem nächsten Urlaub werden wir beide den Ort deiner Kindheit und Jugend besuchen. Die Tschechoslowakische Republik ist jetzt unser kommunistisches Bruderland und ein Visum dürfte für mich kein Problem sein“.

Er war überrascht als sie ihm mitteilte, dass sie dies nicht wünsche: „Ich will die Bilder meiner Kindheit nicht zerstören durch eventuelle unangenehme Überraschungen“, sagte sie, was ihr Sohn durchaus verstand.

Lucas lag jetzt entspannt bei den anderen Hunden, er schien zu schlafen, doch mit einem Auge beobachtete er ständig Joseph, denn es könnte ja das Zeichen zum Aufbruch geben. Als dieser seine Jacke überzog, war Lucas plötzlich hellwach. Das fiel auch der Mutter auch und sie meinte, dass Hund und Herr ein hervorragendes Team seien, da Lucas jede kleine Geste Josephs verstand. 

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10.04.2022: Fortsetzung - Teil 7

Da Oberstleutnant Wild freitags noch Dienst hatte, fuhr er Samstagmorgen nach Hause zurück, um bei der Treibjagd dabei zu sein. Es stand außer Frage, dass ein Fernbleiben für ihn Konsequenzen bedeutet hätte. Schweren Herzens nahm er auch Lucas mit, denn er kannte all die traurigen Geschichten, dass bei solchen Veranstaltungen die schießwütigen Teilnehmer nicht selten einen Irischen Setter mit einem Reh verwechselt hätten. Auf der Fahrt hielt Joseph seinem Gefährten eine Standpauke nach der anderen, dass dieser stets in seiner Nähe zu bleiben habe, und dass kein Wild so verführerisch rieche, um diese Regel zu brechen.

Als sie durch die Hauptstraße des Dorfes fuhren, sah dieses wie verwandelt aus. Junge Pioniere in weißen Hemden mit blauen Halstüchern hielten Plakate mit der Inschrift „Wir kämpfen um hohe Lernergebnisse“ hoch, andere versuchten eifrig die Grundschüler in Reih und Glied am Straßenrand aufzustellen.

Überall gab es Plakate mit Honeckers Gesicht und dazu passende Losungen: „Vorwärts immer, Rückwärts nimmer.“

Meinem Friedensstaat, meine Friedenstat“, Joseph musste dabei unweigerlich an die getötete Frau an der Grenze denken.

Zwei junge Frauen hielten ihre Losung „Folgt dem Beispiel unserer Partei, arbeitet und lebt sozial“ so hoch, dass sie umkippte und die Kleinsten überdeckte. Zwei Kinder rannten in Panik davon.

Zwei Freunde seines Vaters aus der LPG trugen ein Schild: „Gute Qualität in der Arbeit ist ein Beitrag zur Stärkung der DDR“.

Joseph wurde zur Seite gewinkt. Er hielt seinen Lada an und stieg aus. Im gleichen Moment brauste die Autokolonne des Personenschutzkommandos in ihren Tschaikas vorbei. Es folgten „fremdartige Geschöpfe“ aus kapitalistischer Produktion (Volvo, Mercedes G, Citroen CX Prestige, Toyota), die Fahrzeuge der Diplomaten und hohen Funktionäre, gefolgt von einem lindgrünen Range Rover mit einem massiven Rammschutz, elektrischer Seilwinde und großen Scheinwerfern. Ein blasses Gesicht mit schwarzer Hornbrille auf dem Rücksitz schien zu winken. Oberleutnant Wild schlug automatisch die Haken zusammen und salutierte.

Als Nachhut folgten zwei Aro Geländewagen mit Wachleuten.

Zurück blieben in Staub eingehüllte Trabis und Wartburgs am Straßenrand und Menschen, die ihre Losungen zusammenrollten und sich auf den Rest des freien Tages freuten. Die Kinder packten ihren Fußball aus und verschwanden auf dem Bolzplatz des Dorfes.

Oberstleutnant Wild war vorerst einmal beschäftigt den aufgeregt kläffenden Lucas zu beruhigen, denn diesem war das alles nicht geheuer.

Joseph stattete seinen Eltern einen kurzen Besuch ab. Nachdem er seine Uniform durch die Jagdkleidung ausgetauscht hatte, fuhr er ins Jagdrevier. Er fuhr an kahlen „abrasierten“ Feldern vorbei. An manchen Stellen wurde das Maisstroh mit den reifen Kolben nicht ganz untergepflügt und Joseph musste an die traurigen Worte seines Vaters denken.

Nach zweimaliger Ausweiskontrolle wurde er den Schützen zugeteilt und er durfte das riesige Jagdzelt betreten. Massive Stützpfeiler aus Metall, die Wände und der Boden mit Tannenreisig bedeckt. Ein Duft von frisch geschlagenen Tannen übertönte den Zigarettenqualm. Etwas abgelegen gab es das Zelt der Treiber, das weniger aufwendig ausgestattet war. Nach einigen Minuten wurde Oberstleutnant Wild an den Ehrentisch gebeten.

Er trat an den Tisch und salutierte in perfekter Manier.

Der Mann mit der schwarzen Hornbrille blätterte in seinen Aufzeichnungen. Als er den Namen fand, sah er hoch: „Genosse Oberstleutnant Wild, nach Aussagen unseres russischen Freunds sollen Sie einer der Besten sein. Als Offizier der Grenztruppe kämpfen Sie am antiimperialistischen Schutzwall an vorderster Front. Waidmannheil, Genosse Oberstleutnant. Abtreten.“ „Danke der Ehre, Genosse Staatsratsvorsitzender“ erwiderte der junge Grenzoffizier.

Erst dann sah Honecker Lucas, der an der linken Seite seines Herrn artig in der Sitzposition verharrte.

Aber was wollen Sie denn bei einer Großwildjagd mit diesem Hühnerhund?“ Joseph strich Lucas über den Kopf und erwiderte: „ Er ist jeder Aufgabe gewachsen und hat meine Erwartungen stets erfüllt.“ Der Oberstleutnant schlug die Hacken zusammen, salutierte und zog sich zurück. Das Gelächter am Tisch bekam er nicht mehr mit, aber er fragte sich, ob er mit Lucas nicht zu sehr „aufgetragen“ habe.

Nach der Vorstellung aller Gäste rief der Jagdleiter die Beteiligten zum Aufbruch auf: Sputet euch ein bisschen, ihr wisst, Genosse Mittag will um 18 Uhr seinen ersten Hirsch schießen.“ Der Witz schien angekommen zu sein und alle setzten sich in Bewegung.

Am Waldrand mit Ausblick auf eine ausgedehnte Wiese befanden sich die Kanzeln.

Für die hohen Parteifunktionäre und die honorigen Staatsgäste wurde eine Tribüne aufgestellt mit bequemen Sitzen und einer Balustrade zum Auflegen der Waffen. Oberstleutnant Wild und die anderen Offiziere verteilte man auf Hochsitze im gebührenden Abstand zur Ehrentribüne.

Plötzlich vernahm man Treiberlärm und etwas später wurde ein Rudel stattlicher Rothirsche, die aus ungarischen Gehegen stammten, auf die Wiese getrieben. Die Tiere, die kaum in der Lage waren richtig zu laufen, blieben erschöpft in der Mitte der Wiese vor der Ehrentribüne stehen. Und nun begann ein ohrenbetäubendes Geknalle und vielee Hirsche brachen an Ort und Stelle zusammen, andere schleppten sich noch trotz Verletzungen ins Dickicht des Waldes.

Joseph dachte, dass dies Zustände wie im Mittelalter bei den Jagden der Feudalherren wären und ihm fiel das Gedicht aus Sturm und Drang von G. A. Bürger ein: Wer bist du Fürst? Wer bist du, dass, durch Saat und Forst, das Hurra deiner Jagd mich treibt, entatmet, wie das Wild?“ Er liebte als Jugendlicher diese literarische Epoche des 18. Jahrhunderts voller Gefühle und Aufbegehren. Hatte sich die Welt nicht weiterentwickelt?

Nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei. Eine eisige Totenstille überzog die Natur.

Zur Jagd gehörte auch das Dinner im Jagdzelt. Es bestand aus erlesenen Wildspezialitäten und bot für die Teilnehmer Gelegenheit zu diskreten Geschäftsabschlüssen. Die meisten der honorigen Gäste hatten sich schon in das grüne Jagdzelt zurückgezogen, um einen Aperitif einzunehmen.

Doch diesmal war es anders. Der kapitale ungarische Sechzehnender, den man Honecker vor die Flinte trieb und den er erlegte, war wie vom Erdboden verschwunden. Man wussten aber, dass der Staatsratsvorsitzende alle von ihm erlegten Tiere fotografiert und kategorisiert wissen wollte und dass er dabei ein richtiger Pedant war. Oft schoss er in einer Jagdsaison mehr als hundert Rothirsche.

Zu allem Übel waren an diesem Tag einige der Hundeführer schon zurück ins nahe Jagdhotel gefahren, denn das Gekläffe der Hunde würde die Unterhaltung stören. Es wurde langsam dunkel. Der hektische Jagdleiter sah Lucas an Josephs Seite und bat Oberstleutnant Wild mit seinem Hund bei der Nachsuche mitzuhelfen.

Alle Hunde wurden auf der Wiese angesetzt. Die Bracken an langer Schleppleine versuchten mit tiefer Nase Spuren aufzunehmen, doch das war bei dem vorherigen Gemetzel nicht einfach, da es viele Blutspuren gab.

Lucas richtete seine Nase in den Wind und stürmte los. Joseph folgte ihm, was bei dem Tempo des Hundes nicht einfach war.

Prompt kam der bissige Kommentar des Jagdleiters: „Der störrische Rote ist weg auf Nimmerwiedersehen!“

Auf einer Lichtung fand Joseph Lucas. Er stand regungslos vor einem Gebüsch. Von Zeit zu Zeit bellte er kurz, um seinem Herrn den Standort anzuzeigen.

Das traurige Bild, das sich Joseph bot, wird er nie vergessen. Er sah einen mächtigen Hirsch mit riesigem Geweih. Das Tier lag im hohen Gras. Als es Joseph sah, hob es seinen Kopf und blickte ihn an. Es war ein durchdringlicher Blick eines edlen Geschöpfes, das scheinbar nicht verstand, warum die Spezies Mensch, die ihn jahrelang versorgte, heute tötete.

Als die anderen Hundeführer mit dem Jagdleiter ankamen, war der Hirsch bereits tot. Joseph saß auf einem Baumstumpf, Lucas lag neben ihm und beide blickten in die großen Augen des Hirsches, die sich nicht schließen wollten.

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01.03.2022: Fortsetzung - Teil 8

Einige Wochen waren vergangen, Joseph und Lukas lebten wieder in ihrem Offizierszimmer in der Grenzkaserne, da erreichte Joseph ein Brief aus Berlin. Der Brief enthielt ein Schriftstück von dem Jagdleiter, dem zuständigen Minister Mielke und dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker unterzeichnet mit folgendem Inhalt:

Der irische Setter Lukas hat durch seinen jagdlichen Einsatz bei der Nachsuche, geführt von Oberstleutnant Joseph Wild, das Waidwerk unseres Staatsratsvorsitzenden gekrönt und den kapitalsten Hirsch, den er je erlegt hatte, durch Totverbellen angezeigt. Eine silberne Plakette an der Trophäe wird stets daran erinnern.

Ab sofort trägt der Rüde den Titel „Held der sozialistischen Arbeit“ und dieser

ausgezeichnete Hund steht unter dem Schutz des Staates. Seine Ernährungs- und Tierarztkosten werden vom Staat getragen. Die Tötung oder Verletzung des Tieres wird unter Strafe gestellt. Das beiliegende Halsband in den Staatsfarben der DDR mit dem Namen des Besitzers Genosse Oberstleutnant Wild ist ein Beweis unserer Anerkennung.

Als am folgenden Wochenende Joseph seine Eltern besuchte und über die Auszeichnung von Lukas berichtete, amüsierte sich sein Vater prächtig. Er verneigte sich vor dem sozialistischen Helden Lucas und sagte ihm eine glänzende kommunistische Karriere voraus.

Sonntagabend kehrte Joseph in die Grenzkaserne zurück, hängte eine Kopie der Urkunde an die Mitteilungstafel, rief anschließend die Soldaten zusammen, legte Lucas vor versammelter Mannschaft das Halsband an und erinnerte seine Untergebenen daran, dass er erwarte, dass ab sofort seinem Hund, die Achtung zu teil werde, die ihm zusteht und er ergänzte:

„Dem Setter Lucas steht ab sofort jede Bewegungsfreiheit zu. Der Leinenzwang für den prämierten „Parteihund“ ist aufgehoben. Eine Verwechslung mit einem anderen Hund oder Wildtier ist durch das Halsband unmöglich. Witzeleien oder Späßchen auf Kosten von Lucas bedeuten Bunker. Seine körperliche Unversehrtheit steht an erster Stelle. Zuwiderhandlungen bedeuten Militärgericht.“

Als Joseph wieder allein in seiner Stube war, musste er erst einmal kräftig lachen. Er stellte sich immer wieder die Grenzsoldaten vor, die sich seinen Vortrag mit verdutzten Gesichtern anhörten.

Abends saß er auf seinem Wachturm und beobachtete mit seinem Fernglas die Wiesen im „Feindesland“. Und wieder sah er die junge Frau, die verzweifelt versuchte ihren Setter anzuleinen. Sie schien auf ihn einzureden und er ließ sie auch bis auf einen Meter an sich herankommen, um dann das Weite zu suchen. Joseph amüsierte sich köstlich bei diesem Anblick und dachte nur: „Lucas würde ich das nicht durchgehen lassen.“

Leider holten ihn in den nächsten Tagen seine selbstsicheren Gedanken ein, denn nach dem Abendspaziergang hob plötzlich Lucas seine Nase in den Wind, er schien mit seinen Lefzen die Witterung zu kauen, er begann zu winseln und plötzlich war er verschwunden.

Joseph pfiff mit seiner Trillerpfeife, was das Zeug hielt, doch der Rotschopf war nirgends zu sehen.

Ein Stück Wild? Unwahrscheinlich, denn der gut ausgebildete Jagdhund war gehorsam und Hetzen war nicht seine Sache.

Joseph ging zum Wachturm zurück, beauftragte zwei Grenzer, die Botschaft an alle Wachsoldaten weiter zu geben, dass der „Parteihund“ Freigang habe und jeder verpflichtet sei, dafür zu sorgen, dass dieser unbeschadet zu seinem Besitzer zurückfinde. Er ließ sich seine Verärgerung und Enttäuschung über seinen „Streuner“ nicht anmerken, nahm sein Fernglas, um den Kontrollstreifen zu beobachten, denn an einigen Stellen des Zaunes gab es Öffnungen zum Durchgang des Wildes. Dadurch wollte man verhindern, dass „falscher Alarm“ ausgelöst wurde.

Auf dem Kontrollstreifen war kein Hund zu sehen, aber der Anblick, der sich ihm bot, als er sein Fernglas über die Wiesen jenseits des Zaunes schweifte, ließ ihm den Atem stocken: Zwei Setter tobten über die Wiese. Sie jagten sich gegenseitig hielten inne, legten die Vorderpfoten auf den Boden, musterten sich, um dann ihren wilden Tanz fortzuführen.

(Auf die Technik von Zeiss –Jena ist Verlass und Joseph war nah am Geschehen.)

Die Frau versuchte die Hündin am festzuhalten, was ihr nicht gelang, dann fasste sie den Rüden am Halsband, schien inne zu halten, ging in die Hocke und studierte scheinbar die Gravur. Plötzlich lachte sie, ihr wurde scheinbar einiges klar. Im gleichen Augenblick riss sich der Rüde los, stürmte zur Hündin und dann war es geschehen. Die Frau ging zu beiden Hunden strich ihnen mit der Hand über den Kopf und wartete geduldig bis sie sich lösten. Sie leinte die Hündin an und ging Richtung Dorf. Beide drehten sich noch einige Male um und sahen zurück. Die vorher von Leben pulsierende Wiese war jetzt leer. Die Frau hob die Hand und winkte Richtung Niemandsland. Es war ihr bewusst, dass diese Geste nirgends ankam.

Oder doch?

Joseph ließ sein Fernglas sinken, stieg den Wachturm hinab und traute seinen Augen nicht, denn im Gras lag ein kräftig hechelnder schuldbewusster Lucas. Er strich dem hoch dekorierten „Republikflüchtling“ sanft über den Oberkopf, leinte ihn an und ging mit ihm in seine Stube. Lucas leerte eine Schüssel Wasser und legte sich auf seine Decke. Joseph dachte: Leben kann so schön und ehrlich und ohne Grenzen sein. Fontane würde mit

Wüllersdorf sagen: “diese Tiere sind uns über.“